Rainer Bayreuther (12/2021)
Der Sound Allahs
Glockenläuten und Muezzinruf
Wie viele Menschen liebe ich Glockenläuten. Die leicht scheppernde Kirchturmglocke im kleinen Schwarzwalddorf bei meiner Großmutter, wo wir manchmal übernachteten und ich oft etwas bange nachts wach im Bett lag, spendete alle halbe Stunde einen Trostmoment. Das volle Geläut, wenn wir mit den Eltern nach dem Gottesdienst aus der Klosterkirche nach draußen kamen, hatte etwas Umfassendes. Weitere Klangerinnerungen aus der Kindheit könnte ich aufzählen. Irgendwann wurde mir klar, dass diese – im weitesten Sinn religiösen – Gefühle wenig mit der kirchlichen Tradition zu tun hatten, in der ich aufwuchs. Etwa als in meiner Wohnung eine Standuhr Einzug hielt, ein über hundert Jahre altes Stück aus einer Schwarzwälder Uhrenmanufaktur, das viertelstundenweise den Big-Ben-Schlag auf seine acht Klangstäbe hämmert, und zwar in einer Fülle und Stärke, die jeden privaten Besuch fragen lässt, wie man bei einem solchen Geläut denn schlafen kann. Kann man, und die Schläge nachts doch einmal wahrzunehmen lässt einen sogar besser wieder zur Ruhe kommen, als sie nicht zu hören.
Oft wird die Anziehungskraft des Glockenklangs erklärt mit der Kultur und der Tradition, die er aufruft.⤤1 Betrachte ich aber meine persönlichen Erfahrungen näher, komme ich zu der Überzeugung, dass daran etwas nicht stimmt. Sie ereignen sich jedesmal aufs Neue, gleichursprünglich. Das könnte nun immer noch die charakteristische Wirkweise religiöser Traditionen sein und meine Kindheitserfhrungen voraussetzen. Jene allerdings nicht mehr: die Muezzinrufe, die ich bei einer Reise durch den Iran vor einigen Jahren hörte. Sie berührten mich in einer eigentümlich religiösen Weise, obwohl ich dergleichen nie gehört hatte und kein Moslem bin.
Was ist es dann, das mir bei einem Glockenschlag oder gar bei einem Muezzin, der zum muslimischen Gebet ruft, singulär und unvorhersehbar eine religiöse Wahrnehmung beschert? Und was steckt hinter so subjektiven Wahrnehmensprädikaten wie lieben, getröstet werden, umfasst werden, ruhig werden, berührt werden und so weiter tatsächlich? Als im Coronafrühjahr 2021 einige muslimische Gemeinden in Deutschland wieder einmal den Antrag stellten, wenigstens im Ramadan zu wenigstens einem Tagesgebet laut und vernehmlich rufen zu dürfen, und als wieder einmal eine politische Diskussion aufbrach, ob man das in einem christlichen Abendland erlauben dürfe, war der Moment gekommen, mir über diese Frage Klarheit zu verschaffen. Es entstand dieser Text, und da er ein kleines Seitenstück zu dem frisch herausgekommenen Buch Der Sound Gottes⤤2 war, nannte ich ihn für mich "Der Sound Allahs". Die FAZ, in der er dann am 7.7.2021 erschien, titelte zwar anders (mit einem Versehen im Titel: statt "bei diesen Tönen" muss es "bei diesem Tönen" heißen, in Anspielung auf Rilke). Für mich aber bleibt es der "Sound Allahs", den ich momentweise vernahm, ohne an Allah zu glauben.
⤤1 Wolfgang Vögele: Sono auribus viventium. Kultur und Theologie des Glockenläutens in Reformation und Moderne, Münster 2017
⤤2 Rainer Bayreuther: Der Sound Gottes. Kirchenmusik neu denken, München 2021
Interaktive Kirchenmusik. Ein Projekt des Evangelischen Dekanats Bayreuth - Bad Berneck. Gefördert von der Digitalstrategie der Ev.-luth. Kirche in Bayern.